Meinung

Führende Experten warnten vor einer NATO-Osterweiterung - Warum hat niemand zugehört?

Russlands Offensive in der Ukraine hat weltweit, insbesondere in der westlichen Welt, heftige Gegenreaktionen hervorgerufen – eine verständliche Reaktion, gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Aber dieses Ereignis ist von weltweit führenden außenpolitischen Experten seit Jahrzehnten vorhergesagt worden.
Führende Experten warnten vor einer NATO-Osterweiterung - Warum hat niemand zugehört?Quelle: Gettyimages.ru © nzphotonz / iStock / Getty Images Plus

Ein Kommentar von Bradley Blankenship

Von George Kennan bis Henry Kissinger betrachteten westliche Außenpolitiker die Ausdehnung der NATO nach Osten als ein gefährliches Spiel. Insbesondere haben Experten immer wieder davor gewarnt, dass die Osterweiterung der NATO Konflikte mit Russland provozieren würde. Das wirft also die Frage auf, wie wir an diesen Punkt gekommen sind, wenn so viele Leute davor gewarnt haben. Bevor wir auf die Antwort eingehen, schauen wir uns einige Beispiele für diese Warnungen an.

Der führende amerikanische Russlandforscher George Kennan legte einst den Grundstein für die außenpolitische Strategie der USA im Kalten Krieg. Er war der Ansicht, dass die NATO-Erweiterung nach Mitteleuropa und ins Baltikum in den 1990er Jahren "der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Zeit nach dem Kalten Krieg" war. Er warnte davor, dass die Erweiterung der NATO die Beziehungen zwischen den USA und Russland so tief beschädigen würde, dass Russland niemals ein Partner werden und ein Feind bleiben würde. 

Jack Matlock, der ehemalige US-Botschafter in der Sowjetunion von 1987 bis 1991, verfasste neun Tage vor der Invasion in die Ukraine einen Aufsatz, in dem er die Frage beantwortete, ob die sich zusammenbrauende Krise zu diesem Zeitpunkt vermeidbar wäre. "Kurz gesagt, ja", erklärte er. War die Krise vorhersehbar? "Absolut. Die NATO-Erweiterung war der größte strategische Fehler seit dem Ende des Kalten Krieges."

Der führende Gelehrte für internationale Beziehungen John Mearsheimer gab nach der russischen Invasion ein Interview. Darin erklärte er, dass die Situation "im April 2008 auf dem Gipfel in Bukarest ihren Anfang nahm, wo die NATO die Erklärung abgab, dass die Ukraine und Georgien Teil der NATO werden würden." Ihm zufolge haben "die Russen damals unmissverständlich klar gemacht, dass sie darin eine existenzielle Bedrohung sehen und haben damit eine rote Linie gezogen." Mearsheimer betonte im selben Interview, er warne seit Jahren mit Hinblick auf dieses Thema, dass die Frage des NATO-Beitritts der Ukraine von zentraler Bedeutung für Russlands zentrale nationale Sicherheitsinteressen ist.

Während des Konflikts in der Ukraine 2014, in den auch Russland involviert war, warnte der berühmte Russlandwissenschaftler Stephen Cohen ebenfalls:

"Wenn wir NATO-Truppen an die Grenzen Russlands verlegen, wird das die Situation offensichtlich militarisieren, aber Russland wird nicht zurückweichen. Das Thema ist existenziell."

Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, einer der angesehensten amerikanischen strategischen Denker aller Zeiten, sagte 2014 in einem Kommentar, dass "die Ukraine nicht der NATO beitreten sollte." Denn das würde die Ukraine zum Schauplatz einer Ost-West-Konfrontation machen. Er sagte:

"Die Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation zu behandeln, würde für Jahrzehnte jede Aussicht zunichte machen, Russland und den Westen – insbesondere Russland und Europa – in ein kooperatives internationales System zu bringen."

Und es gibt viele andere. Darunter den ehemaligen US-Verteidigungsminister William Perry, den russisch-amerikanischen Journalisten Vladimir Pozner Junior, den Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs, den ehemaligen Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen Pino Arlacchi, den ehemaligen CIA-Direktor Bill Burns, den ehemaligen US-Verteidigungsminister Bob Gates und andere. Sie alle hat Arnaud Bertrand in einem großartigen Twitter-Thread zu diesem Thema aufgelistet.

Mit all dem, weithin bekannt und heftig diskutiert, kommen wir zurück zu der Frage: Warum hat niemand zugehört? Nun, das hat höchstwahrscheinlich damit zu tun, Europa kontrollieren zu wollen und sicherzustellen, dass die NATO selbst nicht auseinanderfällt. In diesem Sinne hat Russlands Invasion in der Ukraine dieses Ziel und noch einiges mehr erreicht.

Madrid wird im kommenden Juni Gastgeber eines großen NATO-Gipfels sein. Dort wird das erste strategische NATO-Konzeptdokument seit 2010 erstellt, das sowohl auf dem europäischen Kontinent als auch jenseits des Atlantiks in Washington ein großes Streitthema war. Das Papier wird den strategischen Arbeitsrahmen der Allianz für mindestens das nächste Jahrzehnt setzen und ihre Ziele klar definieren.

Man hatte zuvor gesehen, dass Europa, insbesondere Frankreich, auf eine gemeinsame europäische Verteidigungsstrategie drängte – die zwar als "Ergänzung zur NATO" bezeichnet wurde, aber sich so deutlich gegen sie stellte, dass Washington sich vehement dagegen stemmte. Nach Entscheidungen der USA, die alle europäischen Staats- und Regierungschefs entsetzten, vor allem, was das AUKUS-Abkommen anbetrifft, machte die Biden-Regierung einige Zugeständnisse, auch wenn sie diese nicht goutierte.

Dies wurde aus der Abschrift eines Gesprächs zwischen Biden und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im September 2021 deutlich. Dort fiel der Satz:

"Die Vereinigten Staaten erkennen auch die Bedeutung einer stärkeren und leistungsfähigeren europäischen Verteidigung an, die einen positiven Beitrag zur transatlantischen und globalen Sicherheit leistet und die NATO ergänzt."

Russlands Invasion in der Ukraine war scheinbar über Nacht für die NATO ein Bad im Jungbrunnen und hat Europa in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Dies zeigt sich in Deutschlands außenpolitischer Wende und der Ankündigung, dass es seine Militärausgaben als direkte Reaktion auf die Situation in der Ukraine auf über 2 Prozent seines BIP erhöhen wird. Berichten zufolge ziehen Schweden und Finnland einen NATO-Beitritt in Betracht, ja sogar die Schweiz hat ihren neutralen Status beendet und sich den EU-Sanktionen gegen russische Vermögenswerte angeschlossen.

Der NATO-Gipfel in Madrid wird zweifellos die Pro-NATO-Stimmen stärken, die unter anderen Vorzeichen als extrem angesehen worden wären, in der Diskussion über eine weitere Multipolarisierung des internationalen Systems. Und man wird zweifellos direkte Erwähnungen Russlands – vielleicht sogar Chinas – im strategischen Konzeptdokument der Organisation finden. All dies fügt sich nahtlos in die US-Außenpolitik ein.

Gleichzeitig hat dies aus Washingtons Sicht alles auch den Vorteil einer zunehmenden Abhängigkeit der europäischen Partnerländer von den USA – insbesondere im Falle von Erdgas. Denn Nord Stream 2 wird jetzt verschrottet und Russland wirtschaftlich erdrosselt – und von militärischer Technologie eingekreist, worüber mit Sicherheit auch der militärisch-industrielle Komplex glücklich sein wird.

Nichts davon schmälert Russlands Rolle in dem Konflikt. Die russischen Streitkräfte sind in die Ukraine einmarschiert und haben, was auch immer die Rechtfertigung sein mag, eine Verletzung des Völkerrechts begangen. Aber strategische Denker im Westen haben dies eindeutig vorhergesagt. Und deshalb können wir nur annehmen, dass alles in die hier beschriebene größere Agenda passt.

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass jeder, der das ukrainische Volk wirklich unterstützen will, grundsätzlich gegen eine NATO-Osterweiterung sein muss. Die EU-Bürger werden ebenfalls unter den Folgen leiden, wirtschaftlich und vielleicht sogar in ihrer grundlegenden physischen Sicherheit. Aber erinnern wir uns daran, dass Europa – hauptsächlich Deutschland und Frankreich – bis zu dem russischen Einmarsch alles in seiner Macht Stehende getan hat, um die Situation zu entschärfen, trotz Washingtons waghalsigem Vorgehen.

Mehr zum Thema - Manöver vor russischer Grenze: Die NATO verfolgt eine Strategie der Spannung

Bradley Blankenship ist ein in Prag lebender amerikanischer Journalist, Kolumnist und politischer Kommentator. Er hat eine Kolumne bei CGTN und ist freiberuflicher Reporter für internationale Nachrichtenagenturen, darunter die Nachrichtenagentur Xinhua. Er twittert auf @BradBlank

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