Europa

Streitthema Migration: Die Spannungen in der EU nehmen zu

Billigarbeitskräfte oder Wählerstimmen? Gebotene Humanität oder soziale Überforderung? Zwischen diesen Polen bewegt sich der Asylkompromiss der EU, wird aber neue Konflikte zwischen den Ländern wie innerhalb der Einwohnerschaft erzeugen.
Streitthema Migration: Die Spannungen in der EU nehmen zuQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Tatiana Bolari / Eurokinis

Von Pierre Lévy

Am 8. Juni erzielten die Innenminister der EU-27 eine – teilweise – Einigung über ein Thema, das seit Jahren als explosiv gilt: die Einwanderung nach Europa. Seit den riesigen Migrationswellen 2015 und 2016 haben die Spannungen zwischen den südlichen EU-Ländern, die an vorderster Front mit der Ankunft von Asylsuchenden konfrontiert sind, und den nördlichen und östlichen, die nicht bereit sind, die Last der Hunderttausenden von Menschen, die vor Krieg oder Elend – oder beidem – fliehen, zu teilen, ständig zugenommen.

In Wirklichkeit sind die politischen und wirtschaftlichen Führer der EU zwischen zwei widersprüchlichen Tendenzen hin- und hergerissen. Einerseits wurde die Einwanderung von den Arbeitgebern immer als eine Möglichkeit gesucht, den Preis der einheimischen Arbeitskräfte zu senken, indem der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt verschärft wird; andererseits nährt der massive Zustrom von Migranten jedoch die Stimmabgabe zugunsten von Parteien, die als rechtsextrem oder "populistisch" eingestuft werden und als kritisch gegenüber der europäischen Integration gelten.

Aufgrund dieses Widerspruchs, der sich für die einzelnen Mitgliedsstaaten (je nach ihrer Geografie, ihrer Geschichte usw.) sehr unterschiedlich darstellt, drängt die Kommission die Mitgliedsstaaten dazu, Kompromisse zu finden. Im September 2020 legte Brüssel einen Vorschlag für einen "Pakt zu Einwanderung und Asyl" vor, der nicht weniger als elf große Themenbereiche enthielt. In einigen eher technischen wurde bereits eine Einigung erzielt, wie z. B. zur Erhebung und Speicherung der biometrischen Daten der Ankommenden in einem zentralen System der EU.

Die Vereinbarung vom 8. Juni, der eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten zugestimmt hat, betrifft zwei der sensibelsten Dossiers: zum einen die Verfahren zur Zulassung von Asylbewerbern und zum anderen die Verwaltung der Aufnahme von Asylbewerbern. Das Prinzip, das sich aus der sogenannten (2013 eingeführten) Dublin-III-Verordnung ergibt, bleibt in Kraft: Das Land, in dem der Ankommende zuerst gelandet ist, ist für die Aufnahme des Ankommenden verantwortlich. Diese Verantwortung soll nun zwei Jahre lang gelten und systematisch angewendet werden.

Was das erste Dossier betrifft, so muss das Aufnahmeland ein beschleunigtes Screening-Verfahren einführen. Nach diesem Verfahren werden Migranten an geschlossenen Orten an der Grenze festgehalten, bis die Legitimität des Asylantrags beurteilt wurde, was maximal zwölf Wochen dauern darf. Diejenigen, bei denen diese Legitimität nicht anerkannt wird, müssen sofort in ihr Herkunfts- oder Transitland zurückgeschickt werden, wenn dieses als "sicher" eingestuft wird. Da sich die Minister nicht auf das Konzept eines "sicheren Landes" (d. h. eines Landes, in dem keine Gefahr für das Leben des Migranten besteht) einigen konnten, wird jedes Mitgliedsland dafür seine eigenen Kriterien festlegen.

Insgesamt müssen die Mitgliedsstaaten 30.000 Abschiebehaftplätze bereitstellen, aber nicht alle werden gleich behandelt: Für die Länder, die an vorderster Front stehen, werden es mehr sein müssen als für die entfernten Länder. Deutschland, eines der Länder, dessen Arbeitgeber den größten Bedarf an Arbeitskräften haben, plädierte (im Namen des "Humanismus") dafür, bestimmte Gruppen (darunter Familien) vom Filterverfahren auszunehmen, dem wurde aber nicht gefolgt.

Der zweite Teil sieht vor, dass Länder, die nicht an der Mittelmeerküste liegen, einen Teil (30.000 pro Jahr) der Asylsuchenden, die in Italien, Griechenland, Spanien, Malta oder Zypern ankommen, zu sich "umsiedeln" lassen, also aufnehmen. Brüssel hat dafür ein bemerkenswertes Oxymoron erfunden: die "obligatorische Solidarität".

Konkret müssen Länder, die sich weigern, ihre Quote zu erfüllen, 20.000 Euro für jede nicht aufgenommene Person in einen EU-Fonds einzahlen. Diese Bestimmung wird insbesondere von den Mitgliedsstaaten Ungarn und Polen bekämpft, die darin eine versteckte Geldstrafe sehen. Aus Warschau wurde angekündigt, eine Sperrminorität gegen die am 8. Juni im Rat erzielte Einigung bilden zu wollen. Neben dem Widerstand dieser beiden Länder enthielten sich auch Bulgarien, die Slowakei, Litauen und Malta der Stimme.

Die Richtlinien sind noch lange nicht endgültig verabschiedet. Man muss noch einen Kompromiss zwischen dem EU-Rat und dem EU-Parlament finden, dem dann (von mindestens 55 Prozent der Länder, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren) im Rat und in der Straßburger Versammlung zuzustimmen sein wird. Die Regierungen, die für die Aufnahme von mehr Migranten sind, und die Regierungen, die dagegen sind, hoffen jeweils, die Waage in ihrem Sinn auszulenken.

Darüber hinaus müssen in anderen sensiblen Bereichen, die in dem von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen "Pakt" enthalten sind, noch Kompromisse gefunden werden. In Brüssel hofft man jedoch, den Pakt noch vor den EU-Wahlen im Juni 2024 abschließen zu können. Damit möchte man den "Populisten", die in vielen Mitgliedsstaaten auf dem Vormarsch sind und bei diesem Termin Erfolge erzielen könnten, den Wind aus den Segeln nehmen.

Die Angelegenheit ist umso brisanter, als die Migrationsströme derzeit wieder anschwellen. Seit Januar 2023 sind beispielsweise 55.000 Migranten in Italien gelandet, im Vergleich zu 22.000 im selben Zeitraum 2022. Laut der Agentur Frontex, die für die Überwachung der "Außengrenzen" zuständig ist, wurden diese zwischen Januar und April von 80.700 Ankömmlingen illegal überschritten, was einem Anstieg von 30 Prozent gegenüber dem Jahr 2022 entspricht, in dem bereits eine Zunahme zu verzeichnen war. Angesichts der sozialen und geopolitischen Entwicklungen in der Welt könnte sich der Trend bestätigen oder sogar noch beschleunigen.

Vor allem gerät das Ganze zum Nachteil der ärmsten Länder, die auf diese Weise qualifizierte und unqualifizierte Frauen und Männer verlieren, die gerne zu Hause geblieben wären, und dann zur Entwicklung ihres Heimatlandes hätten beitragen können.

Aber immerhin geschieht das zur Freude der westlichen Arbeitgeber, die begierig darauf sind, die Löhne ihrer derzeitig lohnabhängig Beschäftigten weiter zu drücken, insbesondere vor dem Hintergrund einer Inflation, in der in Frankreich, Deutschland und vielen anderen Ländern für bessere Löhne gekämpft wird.

Karl Marx sprach zu seiner Zeit bereits von der "Reservearmee des Kapitals". Der große französische Sozialistenführer Jean Jaurès prangerte Anfang des 20. Jahrhunderts den "internationalen Kapitalismus an, der seine Arbeitskräfte auf den Märkten sucht, wo sie am meisten erniedrigt sind (...), um die Löhne überall auf der Welt auf das Niveau der Länder zu bringen, in denen sie am niedrigsten sind".

In jüngerer Zeit gab 1963 der damalige französische Premierminister Georges Pompidou unumwunden zu, dass "die Einwanderung ein Mittel ist, um eine gewisse Entspannung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen und dem sozialen Druck zu widerstehen". Deutlicher kann man es nicht sagen.

Die heutigen nationalen und EU-Politiker sind vorsichtiger. Ihre Einstellung hat sich jedoch nicht geändert. Unlängst sagte Geoffroy Roux de Bézieux, der Präsident von MEDEF, also der Bewegung französischer Unternehmen, und zugleich Präsident der Allianz französischsprachiger Arbeitgeber in Bezug auf Migranten: "Wir werden sie zu beschäftigen wissen."

Wer würde das bezweifeln?

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